WÜRDIGES GEDENKEN


Dr. Peter Gstettner
Ein würdiges NS-Opfergedenken setzt widerständige Erinnerungsarbeit voraus

Kärnten von 1938 bis 1945: Der Gau Kärnten wird von den Nazis gegen den „slawischen Balkan“ als Deutsches Bollwerk ausgebaut und bevorzugt behandelt. Das Land bot sich dafür an, weil es sich schon im „Abwehrkampf“ 1918/1919 gegen die slawischen Eindringlinge gewehrt hatte und weil viele Abwehrkämpfer schon in der illegalen Zeit, als die Nazipartei in Österreich noch verboten war, für Großdeutschland agitiert hatten. Beim „Anschluss“ 1938 konnten dann die Nazis aus einem Reservoir von willigen Helfern und Helfershelfern aus den Reihen der sog. Alten Kämpfer und „Heimattreuen” schöpfen. Darunter waren nicht nur Veteranen aus dem I. Weltkrieg, sondern auch junge deutschnationale Karrieristen aus den Reihen der sog. Kärntner Wissenschaft: Historiker, Geographen, Volkskundler, Juristen, Künstler, Literaten, Ärzte und andere akademisch gebildete Menschen.
Sie alle nutzten die Gunst der Stunde um sich und Kärnten dem „heiligen Boden“ zugehörig zu definieren, der immer schon zum „Abendlande, dem Ursprung und Hort europäischer Kultur“ gehörte. Mit diesen Worten hatte der Kärntner Gauleiter und Reichsstatthalter Friedrich Rainer die besetzte Oberkrain in „seinen“ Gau eingemeindet. Nach dieser programmatischen Rede, gehalten am 27. September 1942 in Krainburg, brachen bei den Deutschnationalen diesseits und jenseits der Karawanken alle Barrieren, die man vielleicht noch gegenüber dem „Nachbarn“ hatte. Man war indifferent oder arbeitete bereitwillig mit,
– beim Terror gegenüber der slowenischen und jüdischen Bevölkerung,
– beim Schinden und Ausbeuten von ZwangsarbeiterInnen,
– bei der Einrichtung von Anhalte- und Konzentrationslagern,
– beim gnadenlosen Verfolgen des slowenischen Widerstandes,
– beim Vollzug des Euthanasie-Tötungsprogramms.
– Man registrierte die wachsende Zahl von verdächtigen und unliebsamen Menschen, die in Geiselgefängnissen und Arbeitslagern verschwanden.
– Man ließ sich von den Deutschen mit Uniformen und Waffen ausrüsten, um an der Seite von Wehrmacht und SS gegen den „Bolschewismus“ zu kämpfen oder, bescheidener, das eigene Dorf und das eigene Land vor „Tito-Kommunismus“ zu schützen. Nebenbei ebnete man der Deutschen Wehrmacht den Weg bei ihrem Vormarsch am Balkan.
– Man begrüßte das Verbot der slowenischen Sprache in der Öffentlichkeit, die Schließung von Schulen und Bibliotheken. Für die brutalen Germanisierungsmaßnahmen war der CdZ verantwortlich: Der Chef der Zivilverwaltung, der SS-Gauleiter Friedrich Rainer, regierte mit harter Hand die besetzte Oberkrain. Das offizielle Kärnten war auf der Seite der Profiteure von den Germanisierungs- und Enteignungsmaßnahmen zu finden.
– Und man hoffte auf den „Endsieg“, was für Groß-Kärnten hieß: Sieg des deutschen Herrenmenschen über den slawischen Untermenschen, einschließlich der Vernichtung der jüdischen Rasse.

Nach dem Mai 1945 trennten sich die Wege. Die Oberkrain war für Kärnten verloren. Kärnten selbst wollte wieder „frei, deutsch und ungeteilt“ ein Teil Österreichs sein. So konnten auch die ehemaligen Nazis hoffen, in ihrer „Heimat“ Zuflucht und Heimstätte zu finden. Nach 1948, als die strittigen Grenzfragen geklärt waren, nahmen neue Veränderungen der weltpolitischen Lage die Aufmerksamkeit der Alliierten in Anspruch. Angesichts des „Kalten Krieges“ wurde das Entnazifizierungsprogramm abgebrochen. In Österreich, das sich ja als „erstes Opfer“ der Hitleraggression definierte, begann der Abwehrkampf gegen die Erinnerung. Die allgemeine Stimmung dafür war günstig. Die Hauptschuldigen standen in Nürnberg vor dem alliierten Militärtribunal, die heimischen politischen Parteien begannen um die Wählergunst der Millionen NS-Mitläufer zu buhlen. Man stellte sich gegenseitig „Persilscheine“ aus und „jeder bescheinigte dem anderen, dass er nur zum Schein Nationalsozialist gewesen sei, sich jedenfalls nichts habe zuschulden kommen lassen“ (Kielmansegg 1989, S. 35). Unter den „Ehemaligen“ wurde das Motto ausgegeben: Wir haben von den Verbrechen nichts gewusst, die Opferzahlen der „anderen Seite“ sind übertrieben, in allen totalitären Systemen hat es KZs gegeben, die GULAGs waren sogar viel schlimmer usw. In diesem Klima der „Solidarität“, das die Wehrmachtskameraden verband, verliefen weitere Untersuchungen über das Engagement von Österreichern für das NS-Regime im Sand. Anklagen endeten mit Freisprüchen. Die meisten Verfahren wurden überhaupt eingestellt. Die Forderung lautete jetzt: Macht Schluss mit diesen Diskussionen, lasst uns endlich in Ruhe! Es war nicht alles schlecht an der Hitler-Zeit.
Die Solidarität im gegenseitigen Sich-frei-sprechen fand schon bald ihren organisatorischen Rahmen in den Vereinen, die sich wieder konstituieren durften - in Österreich zumeist erst nach 1955. In den Traditionsvereinen, Turnerbünden, waffentragenden Verbindungen, Kameradschaftsverbänden und bei den entsprechenden Vereinsabenden und Treffen der ehemaligen SS-Verbände und Nazi-Ordensträger konnte man wieder „frei“ sprechen, und nostalgische Lieder singen. Von den „Kriegshandlungen“ wurde in einer Weise geschwärmt, die vergessen ließ, dass man an einem Krieg beteiligt war, bei dem „hinter der Front Millionen wehrloser Menschen ohne jeden Zusammenhang mit den Kriegshandlungen planmäßig ermordet wurden.“ (Kielmansegg 1989, S. 47)


Gedenkgehen in Klagenfurt, 2016.

Und heute? Sind wir davor gefeit, dass irgendetwas von dem in neuen Formen des Rassenhasses, der Ausländerfeindlichkeit, der Verfolgung von Minderheiten, des Antisemitismus wiederkehrt? Primo Levi hat in seinem bekannten Buch „Die Untergegangenen und die Geretteten“ genau diese Frage gestellt: „Wieviel ist wiedergekehrt oder ist dabei, wiederzukehren? Was kann jeder einzelne tun, damit in dieser von vielen Gefahren bedrohten Welt zumindest diese eine gebannt wird?“ (Levi 1990, S. 17)
Schon damals hat Primo Levi, der sich im Aosta-Tal bei Turin dem Partisanenwiderstand anschloss, in die Fänge der Faschisten geriet und als Jude das Vernichtungslager Auschwitz III überlebte, mit der ihm eigenen Sensibilität auf das Auftauchen einer Zeiterscheinung reagiert, die bis heute in manchen Kreisen der EU propagiert wird: Die Pflege einer rechtspopulistischen Erinnerungspolitik, die die NS-Opfer und den NS-Widerstand ausklammert, um uns versöhnlich gegenüber der Tätervergangenheit zu stimmen. Um die Tätergesellschaft vom Schuldvorwurf zu befreien, werden militärisches Engagement, wirtschaftliche Expansion und Vollbeschäftigung als segensreiche Errungenschaften der NS-Zeit hingestellt, wird die „ordentliche Beschäftigungspolitik im Dritten Reich“ (Jörg Haider) lobend hervorgehoben und sowohl die Frontkämpfer als auch die SS als Vorbilder an Mut und Tapferkeit hochgelobt.
Am Kärntner Ulrichsberg ging man noch einen Schritt weiter. Hier wurden Wehrmacht und SS als Kämpfer für ein geeintes Europa vom Atlantik bis zum Ural gefeiert. Mit Sprüchen, wie „Meine Ehre heißt Treue“, soll am Ulrichsberg eine Vergangenheit wiederbelebt werden, in der angeblich Kärntens Einheit gerettet wurde - in einer Zeit, als die Werte der deutschen Volksgemeinschaft noch galten. Wir müssen uns der Gefährlichkeit dieser Zeitströmung bewusst sein und sollten uns fragen, was jeder Einzelne von uns tun kann, um die Gefahr der Wiederkehr des Gestrigen zu bannen. Wir sollten uns vor Augen führen, wohin uns die geringe öffentliche Wertschätzung des antinazistischen Widerstandes geführt hat. Wir sollten uns darüber klar werden, was eine Vergangenheitspolitik bedeutet, die in der Hauptsache aus pompösen Aufmärschen und nostalgischen Inszenierungen rund um Gedenkstätten für die Gefallenen der Weltkriege und des Kärntner Abwehrkampfes besteht.

Analysieren wir, was „Politik der Verdrängung“ heute heißt und wo sich der Widerstand gegen das politisch gelenkte Vergessen organisiert. Leisten wir selbst Widerstand gegen den uns auferlegten Konsens, den Blick nur in die Zukunft zu richten. Weisen wir die uns nahe gelegte „Versöhnungsgeste“, die Gräben zuzuschütten und Frieden mit der Vergangenheit zu schließen, entschieden zurück. Vor jeder Versöhnung und vor jedem Friedensschluss mit der NS-Vergangenheit geht es darum, den widerständigen Teil der eigenen Geschichte wieder ins Bewusstsein zurückzuholen. Ich wage zu behaupten, es wird der bessere Teil der Geschichte sein, weil er in eine bessere Zukunft weist, in der die Spaltung der Gesellschaft in viele vereinzelte, orientierungslose und entsolidarisierte Menschen weniger wirksam sein wird. Wir kämpfen damit für die Wiedergewinnung einer gesellschaftlichen „Identität“, die sich im Widerstand gegen die Gleichschaltung von nationalen Geschichtsdeutungen und -erzählungen und gegen die allzu schnelle Opfer-Täter-Versöhnung manifestiert. - Im Kern geht es um die Aufgabe, das gesellschaftliche Bewusstsein zu stärken, dass auch für die Überlebenden des Widerstandes und der Lager die NS-Zeit nie zu einer Vergangenheit wurde, die spurlos verging. Die Nachhaltigkeit solcher Spuren ist behutsam wieder ins kollektive Gedächtnis zu heben.
Dazu ein Beispiel: Während für die im Loibl-KZ ermordeten Häftlinge, deren Leichen unter freiem Himmel auf einem Scheiterhaufen verbrannt wurden, bis heute keine sichtbaren Gedenkzeichen gesetzt wurden, gibt es an der Mauer der KZnahen Kirche St. Leonhard im Loibltal schon seit langem eine Namenstafel für die im 1. und 2. Weltkrieg gefallenen Soldaten. Die Überschrift mahnt, der Besucher solle „in Ehrfurcht“ der Gefallenen gedenken. Der Soldatentod wird religiös überhöht und als Auftrag für die Nachkommen begründet: „Jedes Soldatengrab ist heilige Erde. Alle starben, dass uns Frieden werde.“ In Wahrheit war ihr Soldatentod sinnlos. Der Friede kam dadurch nicht. Auch nicht durch die spätere Wiederbelebung der so genannten Täter-Opfer-Umkehr.
Die These von Kärnten als doppeltes Opfer besagt: Kärntens heimattreue Bevölkerung erlitt „unter Hakenkreuz und Titostern“ gleich ein zweifaches Martyrium; Hitler und Tito, zwei von außen kommende Tyrannen, hätten das unschuldige Kärnten vergewaltigt. Davon zeugen in Kärnten, das sich letztlich tapfer zur Wehr gesetzt und selbst befreit hat, die vielen Gräber, Inschriften und Gedenktafeln. Die Volksmeinung, dass im Tode ohnehin alle gleich wären, formte diese Geschichtslegende zur populären Version: Im Nachhinein betrachtet sind Täter und Opfer ununterscheidbar. - Diese Meinung hat den Zeitgeist beflügelt, dass es erinnerungspolitisch und „friedenspädagogisch“ nun an der Zeit sei, dass sich die Nachkommen von Tätern und Opfern über die Gräber der Vorfahren hinweg versöhnend die Hände reichen und unbefangen ein „gemeinsames Totengedenken“ zelebrieren sollen. Durch solche gemeinsame Versöhnungsrituale wird uns die Geschichte als „bewältigt“ hingestellt. Man kann folglich nicht verstehen, dass es immer noch Menschen gibt, auch junge (!), die weiterhin „Erinnerungsarbeit“ einfordern und selbst solche leisten.
Man hat im Grunde nichts begriffen und versteht wahrscheinlich den eigenen „Abwehrkampf“ nicht. Primo Levi vermutet: Die hier fehlende „geistige Klarheit“ beruht darauf, dass die historische Wirklichkeit der NS-Verbrechen im Menschen „Angst oder Unbehagen“ verursacht, zwei Gefühle, denen man sich nicht stellen will. Indem man sich gegenüber der Wirklichkeit entweder unbefangen und unwissend oder nachsichtig und tolerant verhält, glaubt man, diesen Gefühlen entgehen zu können. Das Resultat ist, dass man nur Verwirrung schafft, wo eigentlich „geistige Klarheit“ angesagt wäre: „Der Unterdrücker bleibt, was er ist und das Opfer ebenfalls: sie sind nicht austauschbar, der erstere muss bestraft werden, man muss Abscheu vor ihm empfinden (allerdings sollte man auch versuchen, ihn zu verstehen), der zweite ist zu bemitleiden, und ihm muss geholfen werden.“ (Levi 1990, S.21)
Der bekannte Holocaustforscher Raul Hilberg schrieb im Vorwort zu seinem Standardwerk „Die Vernichtung der europäischen Juden“: „Die Vergangenheit nicht zu kennen heißt, sich selbst nicht zu begreifen“. Der Wunsch, sich selbst zu begreifen, ist nur dann ein reales Ziel, wenn man bereit ist, den mühevollen Weg der Arbeit an der Erinnerung zu gehen. Und jeder Schritt, den man in diese Richtung unternimmt, führt zu  einem weiteren Wunsch, nämlich auch die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu begreifen, aus denen immer wieder Gewalt entsteht - auch die Gewalt, die wir den Opfern antun, wenn wir sie verschweigen oder wenn wir sie namenlos machen und vergessen; oder wenn wir sie mit den Gefallenen der Weltkriege, denen die Gesellschaft Hochachtung und Ehre entbietet, vermischen und „in ein Boot“ setzen.

Literatur:
Hilberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden. Frankfurt/M. 1990.
Kielmansegg, Peter Graf: Lange Schatten. Vom Umgang der Deutschen mit der nationalsozialsozialistischen Vergangenheit. Berlin 1989.
Levi, Primo: Die Untergegangenen und die Geretteten. München 1990.

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